Exkursion nach Ludwigsburg
Am 29. November 2016 unternahm die 6b Klasse in Begleitung von Prof. Jäger und Prof Wolf-Batlogg eine ganztägige Exkursion nach Ludwigsburg bei Stuttgart.
In Ludwigsburg befindet sich die international weithin bekannte Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, seit 2015 geleitet von Oberstaatsanwalt Jens Rommel. Ludwigsburg ist die „Stadt der Nazi-Jäger“. Auch mehr als 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs können dank der akribischen Arbeit der Zentralen Stelle immer noch Verbrechen aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aufgeklärt und verfolgt werden. Gerade am Vortag unserer Exkursion, am 28.11.16, hat der BGH die Haftstrafe für Oskar Gröning bestätigt. Der 95-jährige „Buchhalter von Auschwitz“ war wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilt worden. Das Archiv in Ludwigsburg sammelt weltweit das gesamte erreichbare ermittlungsrelevante Material über nationalsozialistische Verbrechen, sichtet und wertet es aus. Ziel dieser Arbeit ist es, noch verfolgbare Beschuldigte festzustellen. Dann wird der Tatbestand an die zuständige Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die über das weitere Verfahren zu entscheiden hat. Zur Bewältigung dieser Aufgaben sind der Zentralen Stelle Staatsanwälte, Richter und Polizeibeamte zugewiesen. Auf den entsprechenden Türschildern konnten wir „Hauptkommissar“ und „Staatsanwältin XY“ lesen, was uns schon beeindruckt hat. Derzeit sind in der Zentralen Stelle neben dem Behördenleiter noch fünf ermittelnde Beamte bei insgesamt 17 Bediensteten beschäftigt. Wenige Jahre nach ihrer Gründung im Jahre 1958 arbeiteten 121 Mitarbeiter in der Zentralen Stelle, die damals eine bedeutende Institution der frühen Bundesrepublik bei der Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen war. Erst mit ihrer Gründung hatte die systematische Verfolgung all der Gräueltaten beginnen können. Seit ihrer Gründung hat die Zentrale Stelle rund 7500 Vorermittlungsverfahren eingeleitet. Heute ist das Archiv nach wie vor aktiv, alles wird auf Karteikärtchen archiviert, nichts ist bislang digitalisiert. 800 Regalmeter Papier, 2,40m hoch.
Wie kamen wir auf die Idee, nach Ludwigsburg zu fahren? Das ist eine eigene Geschichte: Am Ende der fünften Klasse lasen wir als Klassenlektüre „Der Fall Collini“ von Ferdinand von Schirach. In diesem Roman geht Strafverteidiger Caspar Leinen in die Zentrale Stelle, um zu recherchieren. Er hat Fabrizio Collini zu verteidigen, der sein Motiv für den Mord an dem alten freundlichen Herrn Meyer nicht nennen will. Meine Exkursionen, Wandertagen und Ausflügen nie abgeneigte Klasse meinte, wir könnten doch nach Ludwigsburg fahren und uns dieses Archiv mal anschauen. Gesagt, getan.
Nach dem sehr informativen Einführungsvortrag von Herrn Bernd Kreß über die Nazi-Herrschaft, der Besichtigung der Dauerausstellung „Die Ermittler von Ludwigsburg“ im Torhaus und der Besichtigung des Archivs inkl. Gespräch mit dem Archivleiter konnten die Schüler mit authentischem Material, sprich zum Teil sehr schwer lesbaren Kopien alter Ermittlungsakten, selbst ermitteln. In sieben 3er-Gruppen erarbeiteten sie die Themen „Deportation jüdischer Mitmenschen“, „Massenmord aus der Perspektive der Täter“, „Ziele der Täter – Auswirkungen auf die Opfer“, „Menschenversuche aus der Sicht der Opfer“, „Hermine Br., verheiratete R. – eine Täterin“, „Todesmärsche – Das Massaker von Gardelegen“ und „Der Umgang mit der Vergangenheit – Beispiel Zentrale Stelle und Grafeneck“. Herr Kreß und wir Begleitlehrerinnen waren von ihrem Arbeitseifer und den ausgezeichneten Präsentationen im Anschluss begeistert. Wir alle, die Lehrerinnen mit eingeschlossen, lernten sehr viel über die Dimension der NS-Verbrechen, über Motive und Umfang von Tatbeteiligung und über Mitwisserschaft, hat Bernd Kreß uns doch gleich zu Beginn die Landkarte der circa 1800 KZs gezeigt, die es im Dritten Reich gegeben hat. Im Vordergrund der Aufgaben stand meist „biographisches Lernen“, was den Schülern die Arbeit in gewisser Weise erleichtert hat. Wir erfuhren von den zwei ungarischen Brüdern Jacob, die für das „Auschwitzalbum“ fotografiert worden waren, von ihrer älteren Schwester Lili, die überlebt hat und dieses Album besitzt. Wir erfuhren von Hermine Braun, die wir mit Hanna Schmitz aus unserer Klassenlektüre „Der Vorleser“ vergleichen konnten. Wir erfuhren vom SS-Offizier Karl Jäger, dem wir ein Corpus delicti nachweisen mussten.
An dieser Stelle nochmals ein großes Dankeschön an Herrn Kreß, der uns allen durch die Auseinandersetzung mit ausgewählten Beispielen nicht nur viel über die NS-Zeit beibrachte, sondern auch unser Demokratieverständnis schärfte. Gilt immer In dubio pro reo? Reichen die Gründe aus für die Haft? Gibt es ein Corpus delicti? Verjährt Mord? Was passiert, wenn man den Gehorsam verweigert? Ist Mord anordnen verboten?
Mit zwei Zitaten möchte ich schließen:
„Man ist nicht nur verantwortlich für das, was man tut, sondern auch für das, was man geschehen läßt. Wer es zulässt, dass anderen die Freiheit geraubt wird, verliert am Ende die eigene Freiheit. Wer es zulässt, dass anderen die Würde genommen wird, verliert am Ende die eigene Würde.“ (Roman Herzog)
„Frau Professor, das war die coolste Exkursion, die wir je gemacht haben.“ (Anna auf der Heimfahrt)
Prof. Martina Jäger